Mittelalterliches Manhattan
Wir verlassen den Stellplatz relativ früh und kommen so schon gegen 10 Uhr auf der Area di Sosta camper S. Lucia auf einem Stellplatz (43.4520, 11.0558) nur 2km von San Giminiano weg an. Ich war schon mehr wie 20x in der Toskana, aber habe es noch nie in einer der berühmtesten Städte geschafft. Die Stadt der Türme habe ich noch nie live gesehen, also dringend Handlungsbedarf, diese Lücke zu schliessen.
Vom Stellplatz marschieren wir die 2km in die Stadt, man könnte auch den Bus nehmen, aber die Sicht auf die Stadt ist auf dem Weg grandios und so kann man die Stadt von weitem fotografieren. Von den einst 72 Geschlechtertürme der Stadt vom 12. und 13. Jahrhundert sind heute noch 15 erhalten. Diese Türme galten reichen Familien vor allem um Statussymbole, je höher so ein Turm war, desto mehr Einfluss hatte die Familie in der Stadt. Diese Türme gab es früher in fast ganz Mittel- und Norditalien, in San Gimignano sind aber die meisten Türme aller Städte auch in ihrer vollen Höhe noch sichtbar. In Florenz z.B. wurden diese Türme schon 1250 auf eine Höhe von 28m begrenzt, weil viele einfach instabil gebaut oder bei Erdbeben regelmässig zusammenbrachen. Ebenfalls entschied 1563 der erste der toskanischen Großherzöge, dass in San Gimignano „auch keine geringen Summen“ mehr in diese Stadt investiert werden darf. So blieb die Altstadt entwicklungstechnisch im Jahr 1563 stehen und sieht praktisch noch so aus wie dazumal.
Es ist eine Stadt, die man irgend wann einmal besuchen sollte. Klar ist es sehr touristisch, klar hat es viele Leute, aber es lohnt sich, weil es eben sehr faszinierend ist und ganz sicher bei jedem einem «Wow»- Effekt einstellt. So auch bei uns. Wir schlendern durch die engen Gassen durch die Leute, bestaunen die hohen Türme und landen gezwungenermassen auf dem dreieckigen Zentralplatz.
Dort sehen wir die wartende Schlange vor der Gelateria Dondoli, es soll die weltbeste Gelateria sein. Von 2006 bis 2009 gewannen diese Gelatis den Weltmeistertitel, dazu trägt der Chef verschiedene weltweite Gourmet-Titel und ist der einzige Gelati-Meister, der in Italien je den Titel «Master of Art and Craft» gewinnen konnte. Also wenn nicht hier ein Gelato essen, wo denn? Wir stellen uns also in die noch kurze Schlange und sind schon wenige Minuten an der Glacetheke. Die Sorten sind extrem vielfältig und jeden Tag gibt es andere Spezialsorten, quasi das Tagesmenu. Ich wähle Cioccolato Amedei (aus dem Chuao-Kakao) und eine andere Sorte, (nur die Sorte weiss ich jetzt nicht mehr, ich wusste sie schon nicht mehr, als ich das Gelato ass). Anita wählte etwas mit Pistache und noch zwei weitere Sorten. Die Gelatis waren wirklich sehr gut, sogar die Waffel werden selber hergestellt. Aber ob wir nun ein Weltmeister-Gelato von einem anderen guten Gelato unterscheiden können, ist die andere Frage. Bei allen anderen Gelaterias musste man auf alle Fälle keine Schlange stehen…
mein Gelato und die wartende Schlange
Wir geniessen den Aufenthalt sehr, auch wenn es schon 30 Grad und mehr ist. Anfangs Nachmittag laufen wir dann wieder zum Stellplatz, mit dem Ziel, abends bei weniger Leuten nochmals in die Stadt zu gehen.
Während wir auf dem Rückweg sind, erreicht mich telefonisch die Meldung, dass der gestern bei der Tour de Suisse gestürzte Gino Mäder heute seinen Verletzungen erlegen ist. Das gibt mir natürlich einen Stich ins Herz, auch wenn ich ihn nicht persönlich gekannt habe. All meine Erinnerungen sind schlagartig wieder da, als mein ehemaliger Teamkamerad Fabio Casertelli an der Tour de France in den 90er Jahren tödlich gestürzt ist. Dieses Bild habe ich noch heute in meinem Kopf. Die Stimmung für unbeschwerte Stunden in der Stadt ist urplötzlich weg. Auch erreichen mich nun Telefone für Interviews zu diesem Ereignis, so dass noch mehr Erinnerung heraufkommen. Anita macht dann den Vorschlag, dass wir doch besser weiterfahren, als hier warten und abends nochmals in die Stadt das Leben geniessen sollen.
Wir machen uns weiter auf den Weg nach Norden, reden nicht viel, bis Anita plötzlich sagt, dass unsere Freunde Ruth und This aktuell in Modena auf einem Stellplatz stehen. Sie sind seit neun Monaten unterwegs und jetzt auf dem Heimweg und da wir sie in der ganzen Zeit nie gesehen haben, fahren wir kurzerhand zwei Stunden nach Modena. Unterwegs kaufen wir für einen Grillabend ein und erleben dann doch noch unbeschwerte Stunden und viele Reiseerzählungen.
17.6.2023 - Lieber Rolf - Es ist schockierend, wenn einem derartige Meldungen erreichen. - Besonders wenn man, wie du, in diesem Sport zuhause war. - Ich wünsche dir, dass du den Schock bald überwinden kannst. Anita wird dich sicher auf andere Gedanken bringen und ein Treffen mit Freunden hilft auch immer. - Seid herzlich gegrüsst -